Pulsdiagnose im Ayurveda (Nadi Pariksha): Mit viel Gefühl
Röntgengeräte, MRTs und andere bildgebende Untersuchungsmethoden gab es im alten Indien noch nicht: Ayurveda-Ärzte verließen sich bei der Diagnose vor allem auf ihre Erfahrung, ihre Intuition und ihre Sinnesorgane. Eine der faszinierendsten Methoden im Ayurveda ist die Pulsdiagnostik: Innerhalb von Sekunden können erfahrene Therapeuten am Pulsschlag die Konstitution und mögliche Störungen ablesen. Hier erfährst Du, wie die Pulsdiagnose abläuft und wie Du sie lernst.
Pulsdiagnostik: Ayurvedische Tradition
Der Arzt nimmt Deine Hand, legt die Finger auf Deinen Puls und konzentriert sich für kurze Zeit ganz auf Dich. Anschließend sagt er Dir, welcher Dosha-Typ Du bist, wie Du Dich ernähren solltest und welche Dysbalancen und Störungen es in Deinem Körper gibt.
Klingt fast zu gut, um wahr zu sein? Tatsächlich gibt es einige sehr erfahrene Ayurveda-Mediziner, die sich fast vollständig auf die Pulsdiagnostik verlassen. Das kann manchmal schon fast wie Magie wirken. Normalerweise ist der Puls aber eines von mehreren Diagnoseverfahren der Ayurveda-Medizin. Die Pulsdiagnose zählt neben Zunge, Urin, Stuhl, Haut, Augen, Erscheinungsbild und Geräuschen zur klassischen achtfachen Untersuchung.
Der Puls gilt dabei als einer der sensibelsten Merkmale. Er reflektiert den Strom von Prana, die Energie unseres Lebens. Kurzfristige körperliche und emotionale Schwankungen zeigen sich sofort an Deinem Pulsschlag. Das hat gleichermaßen Vor- wie Nachteile: Der Puls zeigt in Echtzeit, wie es Dir gerade geht. Für langfristige Tendenzen haben Methoden wie die Zungendiagnose allerdings eine stärkere Aussagekraft.
Viel mehr als nur Puls messen
Die Pulsdiagnostik ist eine der hohen Künste des Ayurveda. Sie richtig anzuwenden, erfordert ein intensives Studium, viel Empathie und vor allem jahrelange Übung. Am Pulsschlag zeigen sich die Kräfte und Dynamiken von Vata, Pitta und Kapha. Jeder Mensch wird mit einer bestimmten Kombination der drei Doshas geboren.
Die Prakriti, unsere Geburtskonstitution, bleibt ein Leben lang gleich: Sie ist so etwas wie unser Idealzustand, in dem wir gesund sind und uns wohlfühlen. Als Menschen sind wir allerdings eng mit unserer Umgebung verbunden. Ernährung, Lebensstil, Klima und emotionale Faktoren beeinflussen das Gleichgewicht der Doshas. Verschiebt sich die angeborene Dosha-Balance, sprechen wir von der Vikriti: dem aktuellen Verhältnis der drei Doshas.
Geschulte Ayurveda-Therapeuten können sowohl Prakriti als auch Vikriti am Puls ablesen – und noch viele weitere Details rund um Deine Gesundheit. Auf dieser Einschätzung basieren sämtliche Empfehlungen und Therapien für den Patienten. Wir empfehlen Dir aber, ruhig skeptisch zu sein, wenn sich ein Therapeut rein auf Deinen Puls verlässt. Aus unserer Sicht erweckt es mehr Vertrauen, wenn die Untersuchung eine ausführliche Gesprächsanamnese und andere Diagnosemethoden beinhaltet.
Pulsdiagnostik: Der Ablauf
Bevor Du Dich einer Pulsdiagnose unterziehst, solltest Du keine stimulierenden Substanzen zu Dir genommen haben: Sie könnten das Ergebnis verfälschen. Kaffee sowie schwarzer und grüner Tee sind vor der Untersuchung tabu, dasselbe gilt für Alkohol. Versuche außerdem, etwas früher zum Termin zu erscheinen, damit Dein Puls sich beruhigen kann.
Um den Puls zu fühlen, legt der Ayurveda Therapeut seine Finger auf die Innenseite Deines Handgelenks. Die Pulsdiagnose erfolgt grundsätzlich an beiden Handgelenken – allerdings gilt bei Frauen das linke und bei Männern das rechte Handgelenk als ausschlaggebend. Die Zeigefinger-Kuppe des Arztes liegt direkt auf der Mulde, die Du direkt unter dem Handgelenk spürst. Den Mittel- und Ringfinger legt er direkt daneben.
Falls Du die Pulsdiagnostik an Dir selbst ausprobieren möchtest, legst Du Deine linke Hand auf Deine rechte Schulter – bei Männern ist es genau umgekehrt. Jetzt greifst Du mit der anderen Hand von oben Dein Handgelenk und platzierst die Finger so, wie oben beschrieben. So solltest Du das Pochen Deines Pulses gut spüren können. Na, was fällt Dir als Erstes auf?
Die unterschiedlichen Pulsqualitäten
Um die Pulsdiagnostik korrekt durchzuführen, brauchst Du – im wahrsten Sinne des Wortes – sehr viel Fingerspitzengefühl. Ziel ist es, den Rhythmus und die Kräfte des Pulses in allen Details zu erforschen. Sehr wichtig ist auch, darauf zu achten, mit welchem Finger Du welche Qualitäten fühlst.
Jeder Finger steht für eines der drei Doshas: Vata spürst Du mit dem Zeigefinger, Pitta mit dem Mittelfinger und Kapha mit dem Ringfinger. Je mehr Übung und Erfahrung Du hast, desto einfacher wird es, anhand des Pulses eventuelle Dosha-Dysbalancen zu erkennen.
Die vier wichtigsten Kriterien der Pulsdiagnostik:
- Pulsrate: Wie schnell ist der Pulsschlag?
- Pulsrhythmus: Schlägt der Puls regelmäßig oder stockt er?
- Pulsamplitude: Wie „hoch“ schlägt der Puls?
- Pulsvolumen: Wie weit breitet sich der Pulsschlag zur Seite aus?
Der Puls und die ayurvedischen Doshas
Wenn Du Dich schon ein bisschen mit dem Ayurveda beschäftigt hast, weißt Du bestimmt, wie essenziell die ayurvedischen Gunas sind. Mit ihrer Hilfe charakterisieren wir die Eigenschaften von Menschen, Tieren, Materie und feinstofflichen Tendenzen. In der Regel verwenden wir Gegensatzpaare: Zum Beispiel hart oder weich, kalt oder heiß, trocken oder feucht.
Dasselbe Prinzip gilt bei der ayurvedischen Pulsdiagnostik. Wenn Du anfängst, den Puls verschiedener Menschen zu ertasten, wirst Du große Unterschiede feststellen. Welche Qualitäten Du am stärksten wahrnimmst, hängt damit zusammen, welches Dosha in der Person dominiert.
Pulsdiagnostik der Doshas:
- Vata-Typen haben häufig einen sehr schnellen, leichten und unregelmäßigen Puls. Es heißt, der Vata-Puls erinnert an die Bewegung einer Schlange.
- Pitta-Typen zeigen meist einen mittelschnellen und regelmäßigen Pulsschlag, der spitz nach oben ausschlägt. Der Pitta-Puls wird häufig mit dem Springen eines Frosches verglichen.
- Kapha-Typen haben den regelmäßigsten Pulsschlag. Er ist eher langsam und breitet sich weich zur Seite aus. Im Ayurveda entspricht die Bewegung an das Gleiten eines Schwanes.
Ayurvedis unterschieden hierbei zwischen dem Oberflächenpuls und dem Tiefenpuls. Um den Oberflächenpuls zu erspüren, liegen die Finger sehr sanft auf der Hautoberfläche auf. Die Qualitäten, die Du als Erstes wahrnimmst, entsprechen der Vikriti – dem aktuellen Zustand der Person. Um den Tiefenpuls zu messen, musst Du etwas stärkeren Druck ausüben. Auf diese Weise erhältst Du Informationen über die Prakriti, also die angeborenen Ideal-Konstitution.
Was kann man noch am Puls ablesen?
Erfahrene Ayurveda Therapeuten können aus dem Puls noch viel mehr herauslesen. Jedes der Doshas hat fünf Subdoshas, die mit bestimmten Organen und Prozessen zusammenhängen. So lässt sich feststellen, wo genau sich möglicherweise subtile Dysbalancen zeigen. Um die Eigenschaften Subdoshas aus dem Puls herauszulesen, muss Du erkennen, in welchem Bereich Deiner Fingerkuppe Du welche Qualitäten spürst. Du siehst also: Die Pulsidagnostik ist wirklich eine Kunst für sich.
Ein weiterer, sehr wichtiger Teil der Pulsdiagnostik: Mit Ihrer Hilfe lässt sich feststellen, wie es um Dein Verdauungssystem steht. Sowohl Agni, das Verdauungsfeuer, als auch Ama (unverdaute Stoffwechselzwischenprodukte) beeinflussen, welche Eigenschaften der Pulsschlag hat. Ama kann zum Beispiel dazu führen, dass sich der Puls stumpf und schlaff anfühlt. Weil Ama als Ursache vieler Krankheiten gilt, ist es wichtig, es frühzeitig zu erkennen und gegenzusteuern.
Was folgt nach der Pulsdiagnose?
Die Pulsdiagnostik liefert erfahrenen Ayurveda-Therapeuten viele wichtige Informationen. Weil der Pulsschlag so sensibel ist, lassen sich mit seiner Hilfe oft auch Störungen identifizieren, die gerade erst entstehen. Das gilt auch für psychische und emotionale Zustände: Wenn Du gestresst, ängstlich oder traurig bist, zeigt sich das sofort an Deinem Puls.
Damit ist sie eine sehr wertvolle Ergänzung zu den anderen ayurvedischen Untersuchungsmethoden. In Kombination mit der Anlitzuntersuchung, der Zungendiagnose und einem tiefgreifenden Gespräch bekommt ein Ayurveda-Berater ein Gesamtbild Deiner Konstitution und Gesundheit. Damit hat er eine gute Basis, um ein individuelles Therapiekonzept für Dich zu entwickeln.
Du erfährst, welche akuten Dysbalancen behandelt werden müssen und welche Maßnahmen sich dafür eignen. Außerdem bekommst Du Tipps für Deinen Lebensstil und Deine Ernährung, mit denen Du auf lange Sicht das Gleichgewicht der Doshas unterstützt. Viele der ayurvedischen Empfehlungen lassen sich gut im Alltag umsetzen. Bei schweren Störungen oder starker Ama-Belastung kann es sein, dass Dein Therapeut Dir eine Panchakarma-Kur empfiehlt.
Fazit: Ayurvedische Pulsdiagnostik
Die Pulsdiagnose ist nur eine von acht Untersuchungsmethoden im Ayurveda – aber vielleicht die faszinierendste. Gerade für Ayurveda-Anfänger ist es schwer zu verstehen, wie viele Informationen man am Puls ablesen kann. Ein Unbekannter, der innerhalb weniger Sekunden und nur durch Handauflegen unseren Gesundheitszustand analysiert: Da muss es doch einen Haken geben.
Natürlich gibt es immer Menschen, die ein falsches Spiel spielen oder sich überschätzen. Grundsätzlich ist die Pulsdiagnostik aber ein traditionelles und sehr effektives Diagnosetool: Zumindest, wenn der Therapeut über die nötige Kompetenz und Erfahrung verfügt. Dann gibt der Puls viele Hinweise auf die Konstitution und gesundheitliche Schwachpunkte.
Du hast Lust, selbst die Pulsdiagnostik zu lernen? Dann solltest Du Dein Fingerspitzengefühl so oft wie möglich an Dir selbst und anderen Menschen ausprobieren. Die Pulsdiagnostik ist auch ein Teil unserer Ausbildung zum Ayurveda-Therapeut: Melde Dich jetzt zur nächsten Runde an und lerne, wie Du Störungen erkennst und beseitigst!